Wolfsburger Allgemeine vom 31.01.2024
Erschweren hohe Eintrittspreise den Zugang zur Kultur?
„Talk im Foyer“: Im Scharoun Theater diskutieren Experten über die Zukunft der
kassischen Musik
Talk im Foyer: Thema unter den Experten war „Die Musik der Gesellschaft“ mit (v.l.) Martin Weller, Dr.
Gerd Schaller, Andreas Berger und Matthias Ilkenhans.
Foto: Britta Schulze
Von Heinz-Werner Kemmling
„Welche Bedeutung wird die klassische Musik in den kommenden Jahrzehnten haben?“ -
dieser Frage näherte sich die vom Theaterring initiierte Reihe „Talk im Foyer“. Zum Thema
„Die Musik der Gesellschaft“ diskutierte die Vorsitzende , Dorothea Frenzel, gemeinsam mit
ihren Gästen im gut besetzten Foyer des Scharoun Theaters.
Als Moderator begrüßte Kulturmanager Martin Weller den Orchestermanager der NDR-
Radiophilharmonie, Matthias Ilkenhans, den Kulturredakteur der Braunschweiger Zeitung,
Andreas Berger, sowie den Dirigenten und Festivalveranstalter Dr. Gerd Schaller.
Mit einer Bestandsaufnahme über die gegenwärtige Konzertsituation, die durch Corona
beeinflusst ist, griff Weller die Frage auf. Die Gäste der Talk-Runde waren sich einig, dass die
Auswirkungen durch Corona allmählich überwunden seien.
Ilkenhans sah eine positive Entwicklung in den Besucherzahlen, Berger bestätigte dies.
Er stellt in Braunschweig sogar fest, dass wieder „die Konzerte ausverkauft sind“. Dabei sei
ihm aufgefallen, dass viele junge Leute neuerdings die Veranstaltungen besuchen. „Sie sind
neugierig zu hören, welche Musik beispielsweise Tschaikowsky geschrieben hat.“
Schaller sieht die Zukunft der klassischen Musik nicht gefährdet. Im Gegenteil: „Die
Liebe zur Kunst und Musik hat große Zukunft.“ Er weist darauf hin, dass nicht erst heute,
sondern schon seit Generationen vor uns „eine alte Frage“ ist: „Geht es mit der Musik weiter?“
Dabei war die Frage nach der neuen Musik in den Programmen nicht ausgeklammert.
Weller nennt die geringen Besucherzahlen des jüngsten Konzerts mit den Opernausschnitten
von Aribert Reimanns „Lear“. Seine Feststellung: „In einer Stadt wie Wolfsburg ist man an
hypermodernem Autobau interessiert, aber auf das Theater lässt sich das so nicht übertragen.
Wer hört wie klassische Musik?
Ilkenhans weist auf Untersuchungen hin, die ein „Publikum Ü-50 von einem U-50“
unterscheiden. „Ü-50 ist ein analoges Publikum, das noch zuhören kann, während U-50
anderes Hörverhalten zeigt“.
Das greift Berger auf mit einer Anregung für andere Möglichkeiten des Musikgenusses:
„Beispielsweise ein Konzert im Liegen, nicht mit einem herkömmlichen klassischen Programm,
sondern mit geeigneter, ausgewählter Musik.“ In der Runde werden bereits veränderte,
erfolgreiche Konzertformate genannt, wie Lunchkonzerte, Filmkonzerte oder 18-Uhr-Konzerte
mit einem Stück.
Sowohl an Schulen als auch an Elternhäuser gerichtet ist die Frage: „Ist die Entwicklung
der Bildung, insbesondere im Bereich der Kunst und Musik, aber auch der Architektur
(Wohnung der Zukunft) ausreichend?“ Diesem Themenkomplex soll ein besonderer Talk
gewidmet werden.
Verwehren hohe Eintrittspreise den Zugang zur Kunst?
Ein brennendes Thema war auch der Zugang zur Kunst. Weller weist auf die Eintrittspreise
hin, „die den Familien die Teilhabe in der Gesellschaft erschweren oder verschließen“. Eine
Lösung kann die Diskussionsrunde jedoch nicht herbeiführen, denn: Kultureinrichtungen
haben sich nie selbst getragen, und nach den Fürstenhäusern habe der Staat die Aufgaben
übernommen.
Der nächst Talk findet am Sonntag, 10 März statt. Das „Theatercafé“ wird am Montag, 5.
Februar veranstaltet.
Wolfsburger Nachrichten vom 29.01.2024
(Digitalausgabe)
Entspannte Töne in Wolfsburg: Musikgenuss auf der Flauschdecke
Von Hans Karweik
Talk im Theater. Auf der Bühne von links, Martin Weller, Gerd Schaller, Andreas Berger und Matthias
Ilkenhans
© Lars Landmann / regios24
Wie soll man Menschen für Klassische Musik begeistern? Expertenrunde
diskutiert im Wolfsburger Scharoun-Theater bei „Talk im Foyer“.
Zweifel am Fortbestand der (im weitesten Sinne) klassischen Musik hatte keiner der drei
Disputanten, wohl aber an den Methoden der Sicherstellung dieses „Pfeilers der Musik“, wie
Moderator Martin Weller im „Talk im Foyer“ des Theaterringes sagte. So wie am
Sonntagvormittag die Wintersonne leicht wärmend durch die lange Glasfassade schien, so
weiche das Corona-Tief einem neuen Hoch, waren sich Kulturredakteur Andreas Berger
(Braunschweiger Zeitung), Dirigent und Festival-Veranstalter Dr. Gerd Schaller sowie Matthias
Ilkenhans (Orchestermanager der NDR-Radiophilharmonie) einig.
Berger verwies auf die „für mich überraschenden, aktuellen Erfolge“ in Braunschweig, wo es
gelungen sei, auch junge Leute in die Konzerte zu holen. Er plädierte dafür, mit neuen
Formen, Offenheit für Genuss auf andere Art, Überwindung überkommenen Denkens, dies zu
stabilisieren: „Lassen wir Interessenten auf Flauschdecken im Liegen Musik hören“. Weller
hielt dem Braunschweiger Höhenflug nüchterne Zahlen entgegen: von einst 2000 Konzert-
Abonnenten seien nur 900 geblieben.
Weller: Von Konzert-2000 Abonnenten sind 900 geblieben
Schaller forderte, „von Klickraten und Besucherzahlen“ als Kriterien abzukommen, sie durch
eine andere Wahrnehmung zu ersetzen: Austausch und Gegenüber von Musikern und
Publikum. „Dann hat die Musik eine große Zukunft“. Ohnehin habe die „klassische Musik“
immer ein Schattendasein geführt, im 19. Jahrhundert durch die populäre Operette, heute
durch Pop und Schlager. Ilkenhans sagte, entscheidend sei es, dass die Menschen, vor allem
junge Leute, klassischer Musik zuhörten, um Interesse zu wecken.
Dem anhaltenden Verlust bürgerlicher Bildung und damit Zugang zur klassischen Musik müsse
der Staat begegnen, verlangte Schaller. Es sei eine Aufgabe der Politiker, nicht nur der
Schulen, die, so betonte Weller, immer weniger Musik lehrten. Dass beklagte auch Ilkenhans.
Dabei dürfe es nicht nur um Wissen (Was ist eine Fuge? Oder ein Kontrapunkt?), sondern
auch um „Herzensbildung“ gehen, hob Berger hervor, um den intuitiven Zugang zur Musik,
nicht nur das Sortieren nach Komponisten oder Epochen.
Industrie und Wirtschaft wurden als Mäzen nicht erwähnt
Die Industrie, die Wirtschaft wurde als Mäzen nicht erwähnt, obwohl sich in Wolfsburg
Volkswagen stets fördernd zur Kultur bekannte. Generaldirektor Heinrich Nordhoff trug mit
klassischen Konzerten im Blauen Saal des Werkes (Karajan dirigierte) und Ausstellungen
moderner, von den Nazis verfemter Kunst dazu bei, dass VW bis heute darin eine Aufgabe
außerhalb des Unternehmensauftrages sieht.
Veränderungen durch KI blieben unerörtert, aber digitalen Möglichkeiten, im Sitzen auf der
Couch Musik zu hören, könne Begeisterung durch Live-Erlebnisse entgegengesetzt werden.
„Wir dürfen die Menschen nicht unterschätzen“, mahnte Schaller, und Berger sieht in der
Kunst und Musik einen Lebenssinn. Das, so waren sich alle einig, bedinge auch eine
Preisgestaltung, die Geringverdienende und Familien nicht vom Konzertbesuch ausschließe. Da
gelte es Modelle zu entwickeln. „Auch die NDR-Radiophilharmonie arbeitet an neuen
Formaten“, erklärte Ilkenhans.