Wolfsburger Nachrichten vom 21.01.2024
(Digitalausgabe)
Wie von Bothmer mit Stummfilmen beim Theaterring-
Neujahrsempfang begeisterte
Stephan Graf von Bothmer spielte auf dem Konzertflügel seine Kompositionen zu Schwarz-Weiß-Filmen.
© Quelle: Boris Baschin
Charlie Chaplin, Buster Keaton und andere begeisterten vor 100 Jahren
das Publikum. Der Abend bewies, dass sich bis heute nichts daran
geändert hat. Der Theaterring traf für seinen Neujahrsempfang eine
hervorragende Wahl.
Robert Stockamp
Einen wunderbaren Stummfilmabend gab es beim Neujahrsempfang des Theaterrings auf der
Hinterbühne des Scharoun Theaters. Stephan Graf von Bothmer spielte live auf dem
Konzertflügel seine Kompositionen zu den komödiantischen Schwarz-Weiß-Filmen. Das
Publikum war hingerissen.
Harold Lloyds „An Eastern Western“ von 1920, Buster Keaton in „One Week“ (1917), Charlie
Chaplins „The Adventurer“ (1920) und „Limousine Love“ aus dem Jahr 1928 mit dem heute
eher unbekannten Charley Chase wurden auf großer Leinwand gezeigt. Die dazu gespielte
Musik war hervorragend austariert zwischen Leichtigkeit und Dramatik, ohne auch nur ein
einziges Mal dabei den Bogen zu überspannen.
Ein wunderbares Live-Erlebnis
Was der Abend zeigte: Der 100 Jahre alte Klamauk funktioniert noch immer. Das bewiesen die
vielen Lacher und der große Applaus des Publikums. Dass das hier kein Fernsehabend mit
„Väter der Klamotte“ war, sondern ein wunderbares Live-Erlebnis trug sicherlich noch einiges
zu der guten Stimmung bei. Zudem nahm sich von Bothmer auch immer wieder Zeit, ein paar
erläuternde Worte zu verlieren.
Beim Neujahsempfang (v.l.) Christian Mädler, Dorothea Frenzel, Lothar Schmidt und Wolf-Rüdiger Schmieding.
© Quelle: Boris Baschin
Der Künstler war sehr sympathisch und authentisch, erzählte aus seinem umfangreichen
Wissensschatz über die Stummfilmzeit. Zum Beispiel erklärte er, dass es früher vor den
Vorstellungen ein Varietéprogramm gab. Das war auch der Grund, warum er zunächst einen
Witz erzählte. Damit war das Eis schon vor dem eigentlichen künstlerischen Auftritt
gebrochen.
Charley Chase als die Entdeckung des Abends
Auch gab es damals schon Werbefilme. So gab es dann auch zunächst den mit viel Trickkunst
künstlerischen Kurzfilm „Sekt-Zauber“ für die Marke Kupferberg Gold zu sehen, natürlich auch
vom Künstler am Flügel begleitet.
Die Entdeckung des Abends war Charley Chase (1893 – 1940), der weder über den
körperlichen Humor kam wie Llody oder die teilweise atemberaubenden Stunts eines Buster
Keaton oder Chaplins Schlitzohrigkeit. „Chase stellte den amerikanischen Durchschnittsbürger
dar, der immer wieder in die unmöglichsten Situationen geriet“, erklärte Stephan Graf von
Bothmer.
Die heute eher unbekannten Filme seien meist die interessanteren, betonte der Künstler. Das
bestätigte sich auch an diesem Abend. Im Stil eines Poetry Slam ließ er am Ende per Applaus
über den besten Künstler abstimmen. Das Publikum wählte Chase. „Das ist eigentlich immer
so“, sagte von Bothmer.
Mit unbekleideter Frau im Auto zur eigenen Hochzeit
Von Hans Karweik
Moderator und Pianist Stephan Graf von Bothmer, Szenen aus dem Stummfilm von Harold Lloyd: An Eastern
Westerner (1920)
© regios24 | Michael Uhmeyer
Stephan von Bothmer begleitete am Klavier vier kurze Stummfilme mit
bekannten Größen der Zeit auf dem Neujahrsempfang des Theaterringes.
Das rote Sakko ist Stephan Graf von Bothmers Markenzeichen. Er trägt es leger zum offenen,
bunten Hemd. So auch am Samstagabend, als er die Hinterbühne des Scharoun-Theaters in
ein kleines Cineasten-Kino verwandelte: mit kurzen Stummfilmen von Charlie Chaplin („The
Adventurer“), Charley Chase („Limousine Love“), Buster Keaton („One Week“) und Harold
Lloyd („An Eastern Westerner“). „Wir fügen fast 200 Zuschauer ihren 300.000 hinzu“, betonte
die Vorsitzende des einladenden Theaterringes, Dorothea Frenzel, erfreut über das Interesse
an den Komödien aus den 1920er-Jahren.
Alle vier Komiker, Schauspieler und Filmemacher verbindet ihr Geburtsdatum. Geboren
zwischen 1893 und 1899, erkannten sie die neuen Möglichkeiten des Films, der laufenden
Bilder – noch ohne Ton. Ihre Kleidung wurde wie ihre Mimik und Gestik zu Markenzeichen. War
schon pure Ironie: die Brille Harold Lloyds; das ernste Gesicht Buster Keatons; die Hilflosigkeit
von Charley Chase ebenso wie übergroße Hose und Schuhe Charlie Chaplins.
Slapstick, Komik und Sozialkritik
Sie verbanden Slapstick, Komik mit Sozialkritik. Da verzweifelt Buster Keaton am Fertighaus-
Bau, der damals in den USA en vogue war. Während Charley Chase unerwartet eine fremde,
unbekleidete Frau vor seiner Hochzeitsgesellschaft verbergen muss, aber von allen Männern
unterstützt wird. Auch von seinem Schwiegervater. Harold Lloyd ist ein Durchschnitts-
Amerikaner ohne Anerkennung auf waghalsiger Flucht. Und Charlie Chaplin, na klar, ein
Gentleman, aber zugleich ein Gauner, dem Gefängnis entflohen in feiner Gesellschaft. Sie
scheitern fast alle. Bis auf Chase als Bräutigam.
Da die Sprache fehlte, erzählten Augen, Gesichtsausdruck, körperliche Haltungen sehr, sehr
viel über die Verhältnisse im frühen 20. Jahrhundert. Soweit die sehr hohe, filmische Qualität
heute wieder beliebter Stummfilme in Schwarz-Weiß. Die Dramatik, Freude und Hoffnungen,
List und spontane Überlebenstechniken, Verzweiflung und Nöte wie auch Zuneigung und
Triumph verstärkte von Bothmer am Klavier. Er improvisierte live, folgte dem
Leinwandgeschehen, indem er aus allen Musikepochen griff, was zur jeweiligen Handlung
passte: die damaligen Kompositionen, die Klassik, aber auch heutige Filmmusik, Jazz und Pop
– gleichviel: er unterstrich wirkungsvoll die kleinen Geschichten. Ohne aufdringlich zu wirken.
Somit Musik und Film zu einer Einheit verbindend und zugleich das frühe 20. mit dem
begonnenen 21. Jahrhundert.
Von Bothmer vertonte auch das Fußball-Endspiel der WM 2008
„Dieser Mann geht mit dem Klavier ins Kino“, schrieb die „Bild“ treffend. 2008 vertonte er auch
live das Fußball-Endspiel der dank Franz Beckenbauer in Deutschland ausgetragenen Fußball-
WM aus einer Kirche an der Orgel. Er ist als Komponist gefragt, gibt Fachartikel heraus,
vertont Kurzfilme. Und zeigte seinen kreativen Zugriff auf altes Material zu Beginn des 15.
Neujahrsempfangs: „Sektzauber“, eine Kinowerbung von 1912, und „Sepentinen Tanz“, ein
handcolorierter Film von 1900. So lobte Christian Mädler, Dramaturg am Scharoun-Theater,
nach dem Sektumtrunk in der Pause mit eigenem Gedicht den Theaterring für sein Wirken.
Wolfsburger Allgemeine vom 21.01.2024
(Digitalausgabe)